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Die Kronen der Bäume formen das Zirkuszelt, die kleine Lichtung die Manege. Darin ein Seil, festgezurrt an den Bäumen. Auf dem Seil: Lisa Wilke, Eurythmistin, Pädagogin, Seiltänzerin. Grazil und sicher bewegt sie sich auf dem schmalen, schwankenden Weg zwischen den Bäumen, fast zwei Meter über dem Waldboden.

Doch die Höhe ist relativ. Denn Seiltanzen erdet. „Ich finde meinen Grund“ hat Lisa Wilke in einem Gedicht über ihre Leidenschaft geschrieben. Dieses Mal hat sie das Schlappseil in Blücher gespannt, gleich hinter dem Haus der Schwes­ter. Hier, in der Nähe von Boizenburg, fast schon an der Elbe, ist sie aufgewachsen, der Vater war Pastor im Ort. „Ich habe schon als Kind gern Akrobatik gemacht“, erinnert sie sich. Hat sie den Zirkus geliebt? „Ich weiß nicht, sicher“, sagt sie. „Aber wir lebten ja hier sehr abgelegen, so dicht an der Grenze. Ich war eher in der Natur, bin auf die Bäume geklettert.“

Weil Lisa Wilke die Aufnahme an die Erweiterte Oberschule und damit das Abitur verwehrt wurden, machte sie in Crivitz eine Ausbildung zur Baumschulgärtnerin. „Danach wollte ich Trompeterin werden“, erzählt sie weiter. Der Vater hatte ihr das Spiel auf dem Ins­trument beigebracht und die Tochter spielte als Kind im Posaunenchor. „Später während der Ausbildung bin ich zum Unterricht nach Schwerin gefahren, habe außerdem noch Klavierunterricht genommen.“

Fürs Sinfonieorchester allerdings war es zu spät – „dafür hätte ich eher anfangen müssen“, sagt Lisa Wilke. Ihr Wunsch war es vielmehr, im Posaunenwerk, dem Zusammenschluss der Bläser in der Landeskirche, tätig zu werden. Dafür brauchte es allerdings eine Diakonausbildung, für die wiederum eine Erzieherausbildung Voraussetzung war. Wieder öffneten sich neue Türen. Lisa Wilke lernte, wurde Mutter von Zwillingen, studierte Eurythmie. Das ist eine anthroposophische Bewegungskunst, wie sie auch in der Waldorfpädagogik zum Einsatz kommt. Und damit war sie schon fast beim Seiltanzen. In einer Schule in Berlin probte sie mit Kollegen ein Stück, in dem es eine Seiltanzszene gab. „Ich habe diese Szene auf dem Boden gespielt – bis ich in der Schule einen Zettel entdeckte, auf dem ein Seiltanzlehrer Kurse anbot. Ich bin hingegangen – und habe nicht mehr aufgehört“, sagt Lisa Wilke.

Der Seiltanzlehrer war Alexander Berman. Er hatte eine Methode entwickelt, nach der jeder Mensch, der dazu körperlich in der Lage ist, in kürzester Zeit lernt, auf dem Schlappseil zu gehen. Eine gute Zusammenarbeit begann. Lisa Wilke fasste die Methode in dem Buch „Jeder Mensch ist ein Seiltänzer“ in Worte. Sie begann selbst zu unterrichten, führte ein Studio in Berlin. Fünf Unterrichtseinheiten, sagt sie, braucht es, bis nahezu jeder auf dem Seil gehen kann. Es gibt kein zu alt, zu dick, zu grobmotorisch. „Mein ältester Schüler begann mit dem Seiltanzen im Alter von 75 Jahren und sagte mir eines Tages: Jetzt kann ich mir wieder auf einem Bein stehend die Schuhe zubinden“, erzählt die 51-Jährige.

Auch wenn sie mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, stellt sie fest, dass der Spaß am Seiltanzen eigentlich nur ein schöner Nebeneffekt ist: Konzentration, Gleichgewicht, das „Sich-Einordnen-in-den-Raum“ gehören dazu, aber auch Glück und Zufriedenheit über den Erfolg. Niemand braucht Angst vor dem tiefen Fall zu haben, denn für Anfänger hängt Lisa Wilke das Schlappseil nur kurz über den Boden.

Das vorsichtige Absteigen lernen die Kursteilnehmer zuerst: Es geht darum, sich wieder bewusst mit der Erde zu verbinden. „Gleichgewicht ist kein statischer Zustand. Das ist wie im Leben, wenn man einen Moment unaufmerksam ist, passiert etwas“, sagt die Gleichgewichtslehrerin. Insofern hat Seiltanz auch eine philosophische Seite, die in zahlreichen Redewendungen zum Ausdruck kommt. Ein Tanz auf dem Drahtseil. Einen Seiltanz vollführen, ein Drahtseilakt.

Für Lisa Wilke ist der Seiltanz Ruhepol, Kraftquelle, Kunst. Wenn sie als Künstlerin kommt und nicht als Lehrerin, stehen verschiedene Programme auf dem Spielplan ihrer Schlappseilbühne. Damit tritt sie auf Festen und Veranstaltungen auf – wie zum Beispiel auf dem Münzstraßenfest am 21. September in Schwerin.

Die Voraussetzungen dafür sind denkbar einfach. Man braucht etwas Platz fürs Seil, außerdem zwei Bäume oder einbetonierte Pfeiler, an denen es sich be­fes­tigen lässt. Für ihre Shows trainiert Lisa Wilke, so oft sie kann, manchmal sogar in ihrem Kleingarten in der Nähe von Berlin. Und oft schlüpft sie nach der eigenen Show noch in die Rolle der Lehrerin und lädt Zuschauer ein, es selbst auf dem ­schmalen Grat zu versuchen.

Wenn sie Schlappseilunterricht für Schulklassen oder Jugendgruppen gibt, sind gerade die größten Skeptiker am Ende die leidenschaftlichsten Seilgänger. „Wenn der Kurs lange vorbei ist und ich anfange, einzupacken, finden Kinder oft immer noch kein Ende“, sagt Lisa Wilke und freut sich darüber. Auch Aufbaukurse sind kein Problem. Denn mit dem Seiltanzen ist es wie mit dem Schwimmen oder Fahrradfahren: Man verlernt es nicht. Katja Haescher

Foto: Lisa Wilke tanzt auf dem Seil. Die schwingenden Bewegungen muss sie dabei ausgleichen. Das ist gut fürs – auch innere – Gleichgewicht. © Haescher