Wittenburger Verwaltungssitz im Tudorstil fällt auf dem Marktplatz sofort ins Auge
Wer kennt das nicht: Da steht ein schönes Haus in der Straße, hundertmal und öfter ist man schon vorbeigegangen. Aber was verbirgt sich hinter der Fassade? Welche Geschichten stecken hinter den Mauern, wer geht hier ein und aus? Denn schließlich sind Geschichten von Häusern immer auch Geschichten von Menschen. In dieser Serie wollen wir gemeinsam mit Ihnen hinter Fassaden blicken. Diesmal: im Wittenburger Rathaus, an dem Baumeister Demmler seiner Vorliebe für Bögen, Türmchen und Zinnen freien Lauf ließ.
Ob sich Georg Adolph Demmler bei seinem Entwurf vom Namen des Ortes inspirieren ließ? Wer weiß. Fest steht, dass durch das Zutun des Baumeisters auf dem Wittenburger Marktplatz eine Burg steht, die keine ist – sondern das Rathaus. Angeregt von der englischen Tudorgotik und in bester historistischer Tradition entstand das Gebäude in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Es bildet den Abschluss einer Schaffensperiode Demmlers, die mit dessen Entlassung als Hofbaurat zusammenfällt.
Sogar von „Demmlers letzter Rache“ ist die Rede – so auffällig anders ist das Gebäude auf dem kleinstädtischen Platz. Dennoch gehört es für die Wittenburger zu ihrer Stadt. Aus Anlass der Sanierung im Jahr 1999 widmete die plattdeutsche Lyrikerin Ursula Kurz dem Rathaus sogar ein eigenes Gedicht, in dem es unter anderem heißt: „Du büst taun Mittelpunkt fix worden/dat schönste Rathus ringsümher/tau Freud för all uns Wittenborger/sogor mit eigen Füerwehr.“
Letztere war ursprünglich hinter den Türen des Sockelgeschosses untergebracht worden – kein schlechter Platz, wenn man bedenkt, dass der Vorgängerbau des Wittenburger Rathauses in der Nacht vom
19. zum 20. Februar 1848 abbrannte. Die Brandursache geht aus den Akten nicht hervor. Nur einen Tag danach konstatierte eine Kommission unter Leitung des Bürgermeisters Bölte den Totalschaden. Im Sommer gab es Geld von der Versicherung, im Dezember wurde der Brandplatz beräumt. Allerdings fasste der Magistrat für den Rathausneubau eine andere Stelle ins Auge – nicht mehr inmitten des Marktplatzes, sondern eingerückt in die Häuserzeile an der Großen Straße.
Am 23. März 1851 schreiben die Mitglieder des Magistrats nach Schwerin an Georg Adolph Demmler und bitten ihn, die Bauleitung für das neue Rathaus zu übernehmen. Der Architekt hatte zu diesem Zeitpunkt gerade beim Großherzog gekündigt, um seiner Entlassung zuvorzukommen. Bereits zwei Tage später meldet Demmler sich zurück: Wegen geplanter Reisen könne er die gesamte Bauleitung nicht übernehmen. Dennoch ist es keine Absage: Der Schweriner sagt zu, bereits gezeichnete Risse zu prüfen und der Stadt bis zum Juli „in allem, was den Bau betrifft, zur Seite zu stehen“.
Im April besichtigt Demmler den Bauplatz, Anfang Mai schickt er ein 37-seitiges Gutachten nach Wittenburg. In seine Pläne nimmt er Vorentwürfe des Wittenburger Maurermeisters Meincke auf und macht eigene Verbesserungsvorschläge. Im Juni beginnen die Bauarbeiten, im Juli legt Demmler die Bauleitung in die Hände von Ludwig Willebrand, jüngerer Brüder des bekannten Architekten Hermann Willebrand, und geht auf Reisen.
Ende 1852 ist das Rathaus fertig: ein burgenartiger Bau mit vier Ecktürmen, einem Zinnenkranz und einer dreibogigen Blendarkade zum Marktplatz. Was die Bewohner der Ziegel- und Fachwerkhäuschen der kleinen Ackerbürgerstadt wohl dazu gesagt haben? Gewiss ist aber wohl, dass Demmler auch an sie dachte: Mit dem sich zum Markt öffnenden Eingang und dem gleich im Erdgeschoss gelegenen Bürgersaal lässt sich die demokratische Gesinnung des Architekten auch an dem Bau ablesen.
In den Jahren, die auf die feierliche Eröffnung des Rathauses im Januar 1853 folgten, wurde innen immer wieder umgebaut. Als Ende der 1990er-Jahre schließlich eine umfangreiche Sanierung anstand, gab es viel zu tun: Allein der über zwei Etagen reichende Rathaussaal war durch den Einbau von Wänden und Zwischendecken in vier verschiedene Räume geteilt worden.
Heute ist der Rathaussaal wieder das Zentrum des Gebäudes. Und auch die repräsentative zweiläufige Treppenanlage führt zum Eingang in der Portalnische – wenngleich natürlich bei dem Umbau auch ein behindertengerechter Zugang geschaffen wurde. Moderne Elemente wie eine Empore im Rathaussaal und eine Glaswand als Abtrennung zum Foyer ergänzen die sorgfältig sanierten Elemente des 19. Jahrhunderts und fügen das 20. hinzu. Und auch im 21. Jahrhundert wird es Zuwachs gegen: Die Stadt Wittenburg möchte die komplette Verwaltung wieder an den Markt verlegen und hat dafür die ans Rathaus angrenzenden Grundstücke gekauft.
Vor diesem Hintergrund soll zum Abschluss noch einmal die 2018 verstorbene Schriftstellerin Ursula Kurz zu Wort kommen: „So wünsch ick di, min leiwes Rathus/an dat tiedläbens hüng min Hart/dat allens, wat hier ward beslaten/för Wittenburg taun Sägen ward.“
Katja Haescher