Mit dem Parchimer Giebelhaus konnte ein bedeutendes Baudenkmal gerettet werden
Wer kennt das nicht: Da steht ein schönes Haus in der Straße, hundertmal und öfter ist man schon vorbeigegangen. Aber was verbirgt sich hinter der Fassade? Welche Geschichten stecken hinter den Mauern, wer geht hier ein und aus? Denn schließlich sind Geschichten von Häusern immer auch Geschichten von Menschen. In dieser Serie wollen wir gemeinsam mit Ihnen hinter Fassaden blicken. Diesmal: im Giebelhaus in Parchim, das zu den ältesten Fachwerkhäusern Mecklenburgs gehört.
Schief. Das ist ein Wort, das Betrachtern beim Anblick dieses Hauses schnell in den Sinn kommt.So, als hätte jemand von außen kräftig gerüttelt, um rechte Winkel zu vermeiden – Winkel, die der Schweifgiebel ohnehin nicht assoziiert. Innen setzt sich der Eindruck fort. Viele der alten Wände biegen sich hinter Schränken und Regalen zurück und mancher neue Türrahmen ist oben tiefer als unten – und umgekehrt. Trotzdem ist Marko Schirrmeister glücklich, wenn er in dem frisch sanierten Gebäude steht. Der Geschäftsführer der Lewitz Werkstätten gGmbH spricht von einem positiven Zusammentreffen: „Ein Haus, das dem Verfall preisgegeben war, konnte gerettet werden und bekommt eine soziale Nutzung, die die Gesellschaft stark macht.“
Es war Ende 2016, als die Idee reifte, das Giebelhaus für die Lewitz-Werkstätten herzurichten. Die Wohnungsbaugesellschaft Parchim (Wobau) kaufte das denkmalgeschützte Gebäude von der Stadt und sanierte es unter Berücksichtigung des historischen Werts und für die Bedürfnisse des Mieters. Baubeginn war im Herbst 2018, jetzt sind die ersten Bewohner zweier Wohngruppen eingezogen, die in dem Komplex ein Zuhause finden werden.
Ein neues Zuhause für 18 behinderte Menschen und die Rettung eines prägenden Einzeldenkmals für die Stadt:
Das zwischen 1601 und 1604 errichtete Giebelhaus gehört zu den herausragendsten Beispielen dieses Haustyps in Mecklenburg-Vorpommern. Als zu Beginn des 17. Jahrhunderts der Parchimer Ratsherr Johann Busse sein Bauprojekt gegenüber dem Rathaus quasi als Spiegelbild desselben abschloss, untermauerte er damit vor den Augen der Stadtbevölkerung auch einen Repräsentationsanspruch. In dem so genannten Längsdielenhaus nahm die Diele auf der Höhe von zwei Geschossen die komplette Länge des Hauses ein. Hier spielte sich das Leben ab – außer fürs Schlafen war dies der Raum für alle Lebenslagen. Dennoch markiert das Giebelhaus bereits den Übergang zu einer neuzeitlicheren Wohnweise mit unterschiedlichen Nutzungen von unterschiedlichen Räumen.
Etwa 100 Jahre blieb der repräsentative Bau im Besitz der Busses. Nach dem Verkauf gelangte es in die Hände des Gewürz- und Weinhändlers Joachim Brasche und erhielt seinen ersten Umbau. Die Diele im Innern wurde aufgegeben und durch eine Zwischendecke unterteilt, mehrere kleine Räume entstanden. Der Lastenaufzug wanderte nach außen, an der Traufseite zum Marstall entstand dafür eine Ladegaube.
Weitere Kaufleute folgten in der Reihe der Besitzer. Dem Haus war davon äußerlich nichts anzumerken – bis nach wiederum 100 Jahren ein Mann namens Friedrich Wilhelm Dankert erneut merkbar in die Bausubstanz eingriff. Dankert ließ die Fenster im Giebel vergrößern, vereinheitlichen und symmetrisch anordnen. Zeitgenössische Fotos zeigen, dass er sich dabei recht genau an das historische Vorbild hielt. Trotzdem stammt der Renaissancegiebel des Hauses streng genommen aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts.
Um Backsteine im alten Format nutzen zu können, ließ der Bauherr diese vermutlich sogar anfertigen. Nur einmal verließ Dankert die historische Sorgfalt – nämlich, als er die Jahreszahl 1310 im Mauerwerk platzierte. Auf der Grundlage eines 1882 entstandenen Aufsatzes über die Geschichte von Parchim war Dankert nämlich von einem viel älteren Erbe ausgegangen – einem, das Fürst Nikolaus II. von Werle hatte erbauen lassen. Ein Irrtum, den moderne dendrochronologische Untersuchungen aufklären können. Denn das in dem Haus verbaute Eichenholz – übrigens von bester Qualität – war zwischen 1599 und 1603 gefällt worden.
Diese ursprüngliche Fachwerkkonstruktion ist heute fast vollständig erhalten und nur ein Indiz für den kunsthistorischen Wert des Gebäudes. Als nach abermals 100 Jahren die nächste Sanierung anstand, war es deshalb eine Herausforderung, das Haus in allen seinen Facetten zu erhalten und trotzdem behindertengerecht zu erschließen. Das gelingt mit einem „Komplex Giebelhaus“: Hinter dem Gebäude aus dem 17. Jahrhundert reihen sich eines aus dem 19. Jahrhundert, das ebenfalls saniert wurde, und ein Neubau.
Hier befindet sich ein Fahrstuhl, der alle drei Gebäude zugänglich macht. Und so kommen am Ende lauter Vorteile zusammen, die für Marko Schirrmeister den Reiz des Standorts ausmachen: Bushaltestelle vor der Tür, Parkplätze hinterm Haus, Cafés und Einkaufsmöglichkeiten um die Ecke … Dass der historische Charme des Giebelhauses auch die neuen Bewohner fasziniert, freut ihn dabei sehr. Als erste Zimmer waren nämlich die im ältesten Gebäudeteil vergriffen.
Das Haus soll aber auch darüber hinaus zu einem sozialen Zentrum in Parchims Innenstadt werden. Ins Parterre ist die Lebenshilfe eingezogen, außerdem soll dort eine Begegnungsstätte für geistig-behinderte Menschen im Ruhestand ihren Platz finden.
Katja Haescher