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Eine barocke Schönheit

Das Boizenburger Rathaus ist ein Beispiel für die Fachwerkarchitektur des 18. Jahrhunderts

„Ein angenehmer Eindruck auf das Auge“ – eine Reihe Bäume und die Arkaden prägen das Boizenburger Rathaus. Foto: Rainer Cordes

Wer kennt das nicht: Da steht ein schönes Haus in der Straße, hundertmal und öfter ist man schon vorbeigegangen. Aber was verbirgt sich hinter der Fassade? Welche Geschichten stecken hinter den Mauern, wer geht hier ein und aus? Denn schließlich sind Geschichten von Häusern immer auch Geschichten von Menschen. In dieser Serie wollen wir gemeinsam mit Ihnen hinter Fassaden blicken. Diesmal im Boizenburger Rathaus, das zeigt, wie schön norddeutscher Barock sein kann.

Seht her, da bin ich! So scheint es das Boizenburger Rathaus zu sagen, das auf dem Marktplatz der kleinen Stadt seinen prominenten Auftritt hat. Weder rückt es bescheiden in die Häuserlinie noch duckt es sich gegenüber der Kirche. Und es kann sich ja auch wirklich sehen lassen: Im Fachwerk-Look, mit Arkaden, Mansardendach und Türmchen ist es ein besonders schönes Beispiel für ein Amtsgebäude aus der Periode des Barock.

Das fanden durchaus auch Zeit­genossen des 18. Jahrhunderts, die in einer Chronik von 1797 das Rathaus als „recht artiges und mit einem Thurme, worin eine Schlaguhr ist, geziertes Gebäude an dem Markte“ beschrieben. Damals war das Rathaus noch keine 100 Jahre alt, denn der Vorgängerbau war dem großen Stadtbrand 1709 zum Opfer gefallen. 1789 war das 1712 errichtete Gebäude dann repariert und erweitert worden und so dürfte die Beschreibung aus der Chronik bereits dem Stand entsprechen, den Stadtplaner und Denkmalpfleger vor der Sanierung 1994 vorfanden.

Das erste schriftliche Zeugnis zum Rathaus enthält auch Informationen zur Raumaufteilung: Unten wohnte der Ratskellerwirt, oben befanden sich Ratsstube und Gerichtsstube. Und apropos Gericht: Das tagte zweimal wöchentlich und verurteilte Übeltäter wurden durchaus gleich vor Ort ins Halseisen gelegt, das sich unter den Kolonnaden des Rathauses befand und zum Beispiel bei Feld- und Gartendieben zum Einsatz kam. Boizenburg besaß aber auch die „Criminalgerichtsbarkeit“ – und das bedeutete zumeist härtere Strafen als einen Tag am Pranger. 1723 wurden auf dem Markt die Mitglieder einer Bande von Straßenräubern geköpft, die zuvor längere Zeit in der Gegend ihr Unwesen getrieben hatten und schließlich in Boizenburg geschnappt worden waren. Die letzte Enthauptung fand den Akten zufolge 1729 vor dem Rathaus statt: Angeklagt war eine Dienstmagd, die ihr Kind aus Angst vor öffentlicher Schande nach der Geburt getötet hatte. Ein Stein mit dem Abdruck einer Hand soll die Hinrichtungsstelle markieren.

Eine so blutige Geschichte lässt sich nur schwer mit dem freundlichen Gebäude in Verbindung bringen, das „mit seinen weiß angestrichenen Pfeilern … einen angenehmen Eindruck auf das Auge macht“ – so die Chronik von 1797. Da waren aber auch der Henker und sein Schwert schon eine Weile Geschichte. Aus dem Erker über dem Eingang sind in den Aufzeichnungen zum Gebäude aber auch musikalische Auftritte überliefert: „Vormittags und abends bläset der Stadtmusikus aus dem Erker der oberen Etage ab.“

Und Musik hin oder her: Das Boizenburger Rathaus überstand die Jahrhunderte – wenngleich nicht immer gut. Da es vermutlich teilweise über dem Keller des Vorgängerbaus gegründet worden war, war der Bauuntergrund zum Teil recht labil, was der Gebäudestruktur nicht guttat. Auch darüber hinaus hatte das Haus im Laufe der Jahre viel von seinem historischen Charme eingebüßt: In den 1930er-Jahren und dann auch noch einmal zu DDR-Zeiten war es ziegelrot gestrichen worden, das Fachwerk braun. In den 1960er-Jahren hatte die Volkspolizei Räume im Rathaus bezogen und in diesem Zusammenhang versucht, die Fenster im Untergeschoss vergittern zu lassen – dies wurde zum Glück als Verschandelung ablehnt.

Dennoch gab es viel zu tun, als das Boizenburger Rathaus in den 1990er-Jahren von Grund auf saniert wurde. Dabei wurden die Anbauten abgerissen und das Gebäude komplett entkernt – angesichts der kompletten Folienverpackung witzelten die Boizenburger sogar, dass hier Christo für die Reichstagsverhüllung geübt habe.
Die Zahlen dieses Umbaus lassen staunen: 22 Kubikmeter Eichenholz und fast 43 Kubikmeter Kiefernholz, 17.280 Mauerziegel und 5460 Dachziegel stecken in dem Gebäude – genauso wie 920 Fensterscheiben.

Das Ergebnis ist ein Kleinod, eines der schönsten Rathäuser weit und breit, außen nach historischem Muster und innen modern ausgestattet, das Anfang 1996 an die Stadtgemeinschaft übergeben werden konnte. Und auf der Wikipedia-Seite von Boizenburg wird das freistehende Rathaus mit seinem Türmchen unter den Sehenswürdigkeiten der Stadt an erster Stelle aufgelistet.

Katja Haescher