Wer kennt das nicht: Da steht ein schönes Haus in der Straße, hundertmal und öfter ist man schon vorbeigegangen. Aber was verbirgt sich hinter der Fassade? Welche Geschichten stecken hinter den Mauern, wer geht hier ein und aus? Denn schließlich sind Geschichten von Häusern immer auch Geschichten von Menschen. In dieser Serie wollen wir gemeinsam mit Ihnen hinter Fassaden blicken. Diesmal: im Wismarer Rathaus, das einen der größten Marktplätze Norddeutschlands dominiert.
Mit ihrem mittelalterlichen Stadtkern und ihren großen gotischen Kathedralen steht die Stadt Wismar auf der UNESCO-Weltkulturerbeliste. Da ist es fast überraschend, in diesem Umfeld auf ein klassizistisches Rathaus zu stoßen – doch nur auf den ersten Blick. Denn dieses steht in einer Reihe von Vorgängerbauten und verfügt durchaus über mittelalterliche Spuren – dazu später mehr.
Vermutlich ist das den Wismarer Markt dominierende hell verputzte Gebäude bereits das vierte Rathaus der Hansestadt. Schon um 1270 soll hier ein hölzernes Ratsgebäude gestanden haben – allerdings an der nordöstlichen Ecke des Platzes. 1292 bauten die Wismarer dann ein Haus aus Stein, das sich höchstwahrscheinlich in der heutigen Straße „Hinter dem Rathaus“ befand. Wie in norddeutschen Hansestädten üblich, war es nicht nur Amts- und Ratsstube, sondern auch Geschäftshaus von Tuchhändlern und Gewandschneidern. Auch der Weinkeller des Rates war hier untergebracht – ein echtes Multifunktionsgebäude also. Dieses Rathaus wurde im Jahr 1350 ein Raub der Flammen.
Das dritte Rathaus stand bereits am heutigen Ort und damit an repräsentativer Stelle auf dem Marktplatz. Vermutlich wurde dafür lediglich eine Gerichtslaube an das Gewandhaus angebaut; den Keller nutzten die Tuchhändler auch noch, nachdem das Gebäude Rathaus geworden war. Dieser Keller mit mittelalterlichem Kreuzrippengewölbe ist bis heute erhalten und geht vermutlich auf die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts zurück.
In der Schwedenzeit, die 1648 mit dem Ende des 30-jährigen Krieges begann, verfiel das Rathaus immer mehr. Den neuen Machthabern waren andere Dinge wichtig – wie der Ausbau Wismars zur Seefestung. Dass es mit dem Nordischen Krieg Anfang des 18. Jahrhunderts schon den nächsten Händel gab, machte die Sache nicht besser.
1807 stürzte das Rathausdach ein und den Ratsherren blieb nichts anderes übrig, als ihre Dienststunden in die eigenen Wohnungen zu verlegen. Spätestens jetzt war klar: Es wurde Zeit für Nummer vier.
Die Einwohner von Wismar ließen sich nicht lumpen und spendeten so viel Geld, dass ein Rathausneubau realistisch schien. 1819 war es soweit: Das von Hof- und Landbaumeister Johann Georg Barca projektierte Gebäude konnte mit Pomp und schönen Reden eingeweiht werden. Dass Barca in seinen Bau noch brauchbare Gebäudereste des Vorgängerhauses einbezogen hatte, war einer gewissen Sparsamkeit geschuldet. Immerhin beliefen sich die Kosten für das neue Rathaus auf rund 33.000 Taler – 5000 davon wurden zum Beispiel mit dem Verkauf der städtischen Ratsapotheke finanziert.
So kommt es, dass ausgerechnet die an mittelalterlichen Baudenkmälern so reiche Hansestadt Wismar über ein Rathaus von klassizistischer Schlichtheit verfügt. Im Innern beherbergt das Rathaus die einstige „Große Audienz“, den heutigen Bürgerschaftssaal. Hier fand im Jahr 1948 wieder eine Sitzung der Stadtverordneten statt, nachdem 1942 eine Bombe das damals mit dunklem Tarnanstrich versehene Gebäude getroffen und schwer beschädigt hatte.
1990 gab es dann noch einmal eine Schicksalsstunde für das Wismarer Rathaus: Am 19. Dezember brach ein Feuer im Dachstuhl aus, Flammen und Löschwasser setzten dem Gebäude zu. Doch die Wismarer retteten ihr Rathaus ein weiteres Mal: 1992 wurde das wiederaufgebaute Gebäude im Herzen der Stadt feierlich eingeweiht.
Katja Haescher