Im Freilichtmuseum Groß Raden sind Haustypen des 9. und 10. Jahrhunderts als Nachbau entstanden
Wer kennt das nicht: Da steht ein schönes Haus in der Straße, hundertmal und öfter ist man schon vorbeigegangen. Aber was verbirgt sich hinter der Fassade? Welche Geschichten stecken hinter den Mauern, wer geht hier ein und aus? Denn schließ- lich sind Geschichten von Häu- sern immer auch Geschichten von Menschen. In dieser Serie wollen wir gemeinsam mit Ih- nen hinter Fassaden blicken. Diesmal: in Groß Raden, wo eine Zeitreise ins Wohnen des 9. und 10. Jahrhunderts möglich ist.
Die Wände sind naturbelassen, die Heizung muss regelmäßig befeuert werden und das Badezimmer ist der See hinter dem Haus. Wohnkom- fort im 9. und 10. Jahrhundert sah anders aus als heute: „Die Natur war der Baumarkt“, sagt Heike Pilz, die das archäologische Freilichtmuseum in Groß Raden leitet. Hier wurde auf einer Halbinsel im Sternberger Binnensee zwischen 1973 und 1980 eine slawische Siedlung freigelegt, deren Bewohner – die Warnower – zum Stammesverband der Obo- triten gehörten.
Damit Besucher einen authen- tischen Eindruck vom Leben der Slawen bekommen, wurde die Sied- lung rekonstruiert. 35.000 bis 40.000 Besucher lockt das Archäo- logische Museum jedes Jahr. Die Zeitreise auf dem Freigelände führt sowohl ins 9. als auch ins 10. Jahr- hundert – die beiden Siedlungsphasen in Groß Raden. Der Fortschritt beim Hausbau ist hier schon gut er- kennbar. Sind aus dem 9. Jahrhun- dert kleine Ein-Raum-Bauten be- legt, waren es im 10. Jahrhundert schon größere Blockhäuser. Rekon- struiert wurden beide Typen – mit Hilfe alter Techniken und nachge- schmiedeter slawischer Werkzeuge. „Das bedeutet, dass mit Axt und Beil gearbeitet werden musste“, er- klärt Heike Pilz. Und es blieben auch Fragen offen – zum Beispiel die, wie die Ritzen zwischen den Baumstämmen der Wände abge- dichtet wurden. Nahm man Moos? Oder Lehm? Das ist schwer zu sa- gen, weil sich diese Materialien ja nicht über Jahrhunderte erhalten. Fest steht aber, dass schon für die Erbauer der Blockhäuser Dämmung und Isolierung ein Thema war: Da Baumstämme nicht gerade gewach- sen sind, mussten sie Ritzen ander- weitig verschließen. „Das ist wie heute: Nichts hält ewig und an einem Haus ist immer etwas zu tun“, sagt die Museumsleiterin. Eine Herausforderung bedeutete auch die innen liegende Feuerstelle. Der Rauch zog über eine Öffnung im Giebel ab, der durch die Tür ent- stehende Luftzug musste stets mit- berechnet werden. Offenes Feuer, Reet und Holz sind eine gefährliche Kombination – davon zeugt auch die Siedlung Nummer eins aus dem 9. Jahrhundert, die abbrannte – ver- mutlich, ohne dass Feinde die Hän- de im Spiel hatten.
Das Reet für die Dächer der Häuser fanden die Warnower am benach- barten See. Die Nähe zu Wasser war ein entscheidendes Kriterium bei der Wahl der Bauplätze. Gleiches galt für den Wald: „Es wurde ja Holz in Massen gebraucht und manchmal gaben Gruppen auch Siedlungsplätze auf, weil in der Nähe kein Baumaterial mehr vorhanden war“, sagt Heike Pilz. Rund 300 Menschen, so die Vermutung der Ausgräber, waren in der Sied- lung in Groß Raden zu Hause – in 30 Gebäuden. Die Burg war eine Fluchtburg; ins Innere des Walls wurden bei Gefahr Frauen und Kin- der, Tiere und kostbare Werkzeuge gebracht. Mehr als 200 solcher Burgen sind für Mecklenburg-Vor- pommern belegt.
„Das Mittelalter wird oft verklärt dargestellt, dem wollen wir einen authentischen Blick auf diese Zeit gegenübersetzen“, nennt Heike Pilz ein Anliegen. Denn es war vor allem eine Zeit der Mühsal: egal, ob es da- rum ging, ein Haus zu bauen oder etwas auf den Tisch zu bringen. „Multitasking gab es damals nicht, die Menschen konnten sich nur auf eine Sache konzentrieren“, sagt die Museumsleiterin – das anstrengende Mittelalter hatte also auch seine guten Seiten.
Katja Haescher