St. Georgen erzählt Baugeschichte vom Mittelalter bis heute – und ist ein Symbol für die Wende
Wer kennt das nicht: Da steht ein schönes Haus in der Straße, hundertmal und öfter ist man schon vorbeigegangen. Aber was verbirgt sich hinter der Fassade? Welche Geschichten stecken hinter den Mauern, wer geht hier ein und aus? Denn schließlich sind Geschichten von Häusern immer auch Geschichten von Menschen. In dieser Serie wollen wir gemeinsam mit Ihnen hinter Fassaden blicken. Diesmal: in der Wismarer Kathedrale St. Georgen, die zu einem Symbol für den Aufbau nach der Wiedervereinigung geworden ist.
Sie wird als „das Wunder von Wismar“ bezeichnet – die Kathedrale St. Georgen oder besser noch gesagt: ihre Rettung. Wer heute auf die Hansestadt zufährt, wird schon von Weitem von ihrem hoch über die Dächer ragenden Schmuckgiebel begrüßt. Kommt man näher, verschmilzt die Kirche mit der Stadt, um beim Spaziergang durch deren gepflasterte Straßen wieder aufzutauchen: hanseatisch schlicht und doch majestätisch.
Im Innern ein sakraler Saal, der Besucher den Kopf in den Nacken legen lässt: Das Hoch, Höher, Am-Höchsten der Gotik steigert sich hier zu einem atemberaubenden Kirchenraum. Nicht zuletzt ist die backsteinerne Schönheit und kulturhistorische Bedeutung von St. Georgen ein wichtiger Aspekt für den UNESCO-Welterbestatus Wismars – zusammen mit St. Marien und St. Nikolai.
In der Blütezeit der Hanse entstanden, wurde das 20. Jahrhundert zu einem schicksalhaften für die Georgenkirche. Im April 1945 trafen Bomben das gotische Viertel und seine Kathedralen. Es folgten die Zeit der DDR und damit „40 Jahre ohne Dach“, wie Thomas Junggebauer sagt. Er ist Mitarbeiter im Hochbauamt der Stadt Wismar, die alle drei großen Kirchen in ihrer Verantwortung hat. Bis 1990 war St. Georgen immer weiter zur Ruine verfallen – der Bauschutt im Innern türmte sich zwei Meter hoch. „Keine Dächer, keine Fenster, keine Türen“, bringt Junggebauer den desaströsen Zustand in wenigen Worten auf den Punkt. Als dann 1990 auch noch der Nordgiebel auf die gegenüberliegende Häuserzeile stürzte, war klar, dass die Georgenkirche schnelle Hilfe brauchte.
Der Wiederaufbau, von Wismars damaliger Bürgermeisterin Rosemarie Wilcken mit Herzblut vorangetrieben, wurde zu einem der größten Projekte der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, die mehr als 16,6 Millionen Euro beisteuerte. Der Großteil dieser Summe, mehr als 10,5 Millionen Euro, wurde von der Glücksspirale zur Verfügung gestellt. Damit haben sich in den zurückliegenden 30 Jahren viele weitere Spender, Stifter und Baumeister in das die Jahrhunderte überdauernde Gemeinschaftswerk St. Georgen eingereiht.
Die erste Kirche an dieser Stelle wird bereits 1259 erwähnt. Nur ein halbes Jahrhundert später entsteht der heute noch erhaltene Chor mit der gerade Abschlusswand. „Eine solche Form gibt es in Deutschland vielleicht zehn, zwanzig Mal“, sagt Junggebauer. Interessant, dass einst sogar ein Übergang vom Fürstenhof hierher führte: Der Landesherr, der in St. Georgen den Gottesdienst besuchte, brauchte nicht den Umweg über die Straße zu nehmen.
Jedoch war auch Bau Nummer zwei schnell wieder zu klein. Bereits 1404 wurde St. Georgen noch einmal erweitert – sozusagen „im laufenden Betrieb“. Noch heute fallen einige Stellen auf, an denen Mauern doppelt stehen. „Man hat die alte Kirche weiter genutzt und die neue sozusagen darübergestülpt und erst dann die alte nach und nach zurückgebaut“, erklärt Junggebauer. Fasziniert ist er von der Statik des mittelalterlichen Baus und dessen lebendigem Baustoff, dem Backstein. Die Georgenkirche hat ihren Ursprung in den Tongruben rund um Wismar und zeigt, dass Steine, übereinandergestapelt, bis in den Himmel reichen können.
Ausstattungsstücke im Innern gibt es nicht mehr, die Architektur selbst ist Schmuck genug. So steht dem Auge nichts im Wege, wenn der Blick den 21 Meter hohen Chor durchmisst und das 34,5 Meter hohe Hauptschiff. Für eine leere Kirche gibt es viel zu sehen: Wandmalereien, die aktuell gesichert werden, Grabplatten mit seltenen Schiffsdarstellungen, Fotos und Entwürfe aus der Zeit des Wiederaufbaus, oft auch Ausstellungen. Glanzpunkt ist der Turm, auf dem in 35 Metern Höhe eine Aussichtsplattform lockt und die Stadt den Besuchern zu Füßen liegt. Die gotische Kathedrale St. Georgen nimmt jeden mit nach ganz oben.
Katja Haescher