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„Ich schreib mir immer alles auf“

Udo Brinker ist seit 1956 ein eifriger Chronist der Schweriner Stadtentwicklung

Udo Brinker
Foto: Katja Haescher

Wer Udo Brinker besucht, kann viel aus der Geschichte Schwerins erfahren. Nicht nur über maßgebliche Daten wie Stadtgründung und das Wirken großer Lenker. Man erfährt zum Beispiel auch, dass der Landesgärtner Lobedanz am 22. Juni 1846 in seinem Garten neben dem Domfriedhof ein Rosenfest veranstaltete. 

Mehr als 600 Seiten dick ist die Chronik, die aus Udo Brinkers Sammelleidenschaft für Ereignisse in der Stadtgeschichte entstanden ist. Seit fast 70 Jahren dokumentiert er sie. Dinge, die passierten. Ereignisse, von denen er gelesen hat. Überliefertes aus Archiven. Als Jugendlicher bekam der gebürtige Schweriner von seinem Schuldirektor einen Fotoapparat in die Hand gedrückt. „Mach mal ein paar Bilder, wenn du siehst, dass etwas abgerissen oder neu gebaut wird, sagte der. Außerdem schenkte er mir noch ein Buch über Schwerin“, erinnert sich der heute 83-Jährige. Den Rat nahm er an. Nicht nur, dass er jetzt vier in Schwerin erscheinende Zeitungen von der ersten bis zur letzten Seite las. Er zog auch durch die Stadt – immer auf der Suche nach Veränderungen. Viel Zeit war allerdings nicht, denn auch in Udo Brinkers Leben veränderte sich gerade viel. Seinen Kindheitstraum, Lokführer zu werden, gab er auf – zugunsten des Besuchs der zehnklassigen Mittelschule, für die ihn sein Schuldirektor vorgemerkt hatte. Dort merkte der junge Mann, dass die Berufswelt eine Vielzahl von Möglichkeiten zu bieten hatte: „In meiner Familie war ja kein Studierter, aber ich fasste jetzt den Entschluss, auch das Abitur zu machen.“ In Wittenberge besuchte Udo Brinker dafür die Abendschule: nach der Arbeit, Montag bis Freitag, 18 bis 22 Uhr. Auf die Hochschulreife folgte das Studium der Verkehrsmaschinentechnik an der Hochschule für Verkehrswesen in Dresden. Dem Traum von der Lok näherte sich der Schweriner jetzt von einer anderen Seite: Er ging als Diplom-Ingenieur zurück zur Bahn, wurde im Bahnbetriebswerk Schwerin Gruppenleiter für den technischen Betrieb. Und er machte selbst die Ausbildung zum Lokführer, um mit den Kollegen auf Augenhöhe arbeiten zu können. Der Unwille, Mitglied der Partei zu werden, führte dazu, dass der Schweriner innerhalb der Reichsbahndirektion die Stelle immer wieder wechseln musste. In der Abteilung Bahnanlagen war er als Maschinenbauingenieur ein gesuchter Mann. Später wurde er EDV-Technologe, Hauptdienstleiter für Querschnittaufgaben – und nebenbei jemand, der sich immer wieder erfolgreich in ein neues Aufgabengebiet einarbeitete. Das tat er auch übers Berufsleben hinaus – ob als Stadtvertreter und Vorsitzender des Finanzausschusses oder beim Bau des eigenen Hauses in Friedrichsthal. Und nicht zuletzt in der Stadtgeschichte. 

Der Ruhestand brachte wieder mehr Zeit, um mit Block und Kamera unterwegs zu sein. Irgendwann saß Udo Brinker bei Klockenschauster Hans-Joachim Dikow dabei, als sich andere Gäste über Schwerin unterhielten. Er warf hier mal einen Fakt ein, steuerte dort ein Datum bei. Und schnell kam aus der Runde die Frage: Warum kennen Sie sich denn so gut aus? Und er antwortete: Seit 1956 schreib ich mir immer alles auf. Schnell kam die Idee zu einem Buch. Einer der Männer am Tisch war Verleger und hatte die Idee zu der Chronik. Udo Brinker wusste zu diesem Zeitpunkt selbst nicht, wie viele Seiten er bereits zusammengetragen hatte. Gleich nach dem Mauerfall hatte er sich im ­Westen seinen ersten Computer gekauft, einen damals ultramodernen 16-Bit-Rechner. Der ersetzte die Schreibmaschine und spuckte von der Festplatte mehr als 800 Seiten Stadtgeschichte aus. Und zwar in bester Chronikform: eine Darstellung von Ereignissen, aufgezeichnet nach ihrem zeitlichen Ablauf. Zu viel für ein Buch, das am Ende dann mit 600 Seiten immer noch dick wurde. Die Chronik erschien in der ersten Auflage 2011, die 500 Exemplare waren innerhalb von drei Wochen vergriffen. Es folgte eine unveränderte zweite Auflage.

Selbstverständlich hat Udo Brinker danach weitergesammelt. Neben Ereignissen, die es neu zu notieren gibt, haben andere eine neue Bewertung erfahren. „Die archäologischen Arbeiten im Schlossinnenhof beispielsweise haben weitere Erkenntnisse über die Entstehung der slawischen Burg gebracht“, sagt der Stadtchronist. Durch seine fast 70 Jahre andauernde Dokumentation des städtischen Lebens finden sich in Udo Brinkers Fotosammlung etwa 10.000 Bilder im Postkartenformat, wahre Schätze sind darunter. Noch schöner ist es, wenn er diese mit eigenen Erinnerungen verknüpfen kann – zum Beispiel an die Theaterklause im Kleinen Moor. „Wir hatten Theateranrecht und sind nach der Vorstellung immer dorthin auf ein Glas Wein gegangen“, erinnert er sich. „Nach kurzer Zeit trafen dann auch die Künstler, die sogar einen extra Raum hatten, in der Theaterklause ein.“

Noch immer liegen auf Udo Brinkers Schreibtisch Zeitungsausschnitte, die er für bemerkenswert hält. Zu dem Schwerin-Buch, das ihm einst sein Direktor schenkte, sind viele weitere Schwerin-Bücher dazugekommen. Rund um den neuen Welterbe-Status ist eine Menge erschienen, was sich jetzt ebenfalls bei ihm stapelt. Und dann ist da natürlich noch die Chronik der Stadt Schwerin von den Anfängen bis zur Gegenwart, das Buch, das er selbst mit unermüdlicher Laufarbeit und akribischer Recherche gefüllt hat. Sein Lebenswerk.