St. Nikolai, erbaut für die Seefahrer und Fischer, ist Zeugnis mittelalterlicher Backsteinarchitektur
Wer kennt das nicht: Da steht ein schönes Haus in der Straße, hundertmal und öfter ist man schon vorbeigegangen. Aber was verbirgt sich hinter der Fassade? Welche Geschichten stecken hinter den Mauern, wer geht hier ein und aus? Denn schließlich sind Geschichten von Häusern immer auch Geschichten von Menschen. In dieser Serie wollen wir gemeinsam mit Ihnen hinter Fassaden blicken. Diesmal: in St. Nikolai, eine von Wismars ehrwürdigen mittelalterlichen Backsteinbasiliken.
Wismars Vielzahl an Kirchen beschert der Stadt ein reiches Erbe. So gehört St. Nikolai neben St. Marien und St. Georgen zu den drei hanseatischen Großkirchen Wismars. Jene prägen das Bild der historischen Altstadt, welche seit 2002 dem Weltkulturerbe der UNESCO angehört. Durch den wirtschaftlichen Aufschwung zur Zeit der Hanse entwickelte sich Wismar zu einer bedeutenden Stadt im Mittelalter, deren wohlhabende Bürger den nötigen Ehrgeiz besaßen, ihre Kirchen nach dem Vorbild französischer Kathedralen zu errichten.
Um 1380 begann der Bau der dreischiffigen Basilika, etwa 80 Jahre später erfolgte die Fertigstellung des Gewölbes. 1508 wurde schließlich ein 60 Meter hoher Turmhelm aufgesetzt, womit der Kirchturm eine Höhe von 120 Metern erreichte, mit der er auf See zu einer sichtbaren Landmarke wurde. 200 Jahre später, 1703, stürzte dieser jedoch durch einen orkanartigen Sturm auf das Mittelschiff und zerschlug die Gewölbe und einen Teil der Ausstattung. Infolge erhielt der Turm auf einer Höhe von 64 Metern ein querliegendes Satteldach.
Architektur und Charakter der norddeutschen Backsteingotik sind für die Wirkung des Innenraumes bestimmend. Die zu Backsteinen gebrannten Lehmziegel, die aufgrund ihres Eisengehalts beim Brennen eine warmrote Farbigkeit annehmen, leuchten geradezu auf, wenn Sonnenstrahlen durch die Fenster des sogenannten Obergaden – dem über den Arkaden des Mittelschiffs gelegenen Wandabschnitt – einfallen und den zum Himmel strebenden Raum mit Licht erfüllen. Stolze 37 Meter misst die Höhe des Mittelschiffs bei einer Breite von
nur 10,50 Meter, wodurch sich der Eindruck des enorm überhöhten Raumes noch weiter verstärkt, der den Blick unweigerlich nach oben zieht. Richtet man ihn hingegen nach unten, fallen die zahlreich in den Fußboden eingelassenen Grabplatten aus Kalkstein ins Auge. Bis ins 18. Jahrhundert war es üblich, Bürger mit Rang und Namen im Kirchengebäude zu bestatten. Die Prinzipalien – die wichtigsten Ausstattungsgegenstände des Gottesdienstraumes – vom graniten Taufstein aus dem späten 13. Jahrhundert bis zu St. Nikolais jüngstem
Bauwerk, der Chororgel von 2010, veranschaulichen, wie Kirchen im Laufe der Zeit immer wieder umgestaltet
wurden. Damit stellen sie bis heute einen lebendigen Baukörper dar. Bezeichnend ist hierfür der
1774 datierte, prunkvolle Hauptaltar, der nach den starken Sturmschäden von 1703, anstelle des zerstörten gotischen Altars, nun im Stil des Barocks in der mittelalterlichen Kirche errichtet wurde.
Die beträchtliche Anzahl wertvoller Kunstwerke und Ausstattungsgegenstände, die St. Nikolai beherbergt,
stammt teils auch aus anderen Kirchen Wismars, insbesondere aus St. Georgen und St. Marien, die im zweiten Weltkrieg schwer beschädigt wurden – etwa der spätgotische Flügelaltar der Georgenkirche, ein Meisterwerk der mittelalterlichen Retabelkunst, oder die Bronzefünte aus St. Marien, ein mit Teufelsgitter versehenes Taufbecken von 1335. St. Nikolai ist jedoch nicht nur zeitgeschichtlich gesehen ein reger Ort:
In den Seitenkapellen der 365 Tage im Jahr geöffneten Kirche, befinden sich die ständige Ausstellung des Anti-Kriegs-Museums Berlin, ein Buchbasar und eine Kinderkapelle. Die beheizte Winterkirche lädt wöchentlich zum Mittagstisch. Das Kinder- und Jugendorchester sowie das Ensemble „Cappella Baltica“ der Evangelischen Musikschule nutzen die Räumlichkeiten zum Musizieren. Mit etwas Glück kann man bei einem Besuch den raumgreifenden Klängen der Orgel lauschen oder dem Blockflötenspiel des Küsters.
Eine Führung über das Deckengewölbe erfordert den Aufstieg über 95 Stufen und gestattet einen außergewöhnlichen Blick von oben.
Laura Prüstel