Jürgen Schießer sammelt und restauriert bis zu 135 Jahre alte Fahrräder
Das Fahrradfahren begleitet Jür- gen Schießer bereits sein ganzes Leben lang. Im Alter von fünf Jah- ren saß er das erste Mal im Sattel. Mit der ganzen Familie erkundete er während seiner Kindheit in den 1950er Jahren die Wismarer Um- gebung bis hoch zur Insel Poel auf dem Rad.
„Alle Kinder in meiner Straße hat- ten, wenn überhaupt, ein gebrauch- tes Rad. Einen Pkw besaßen da- mals nur wenige Leute“, erinnert sich der heute 70-Jährige zurück. Und auch als junger Mann hat Jür- gen Schießer das Fahrrad fahren nicht aufgegeben. Während ihn einige Kollegen bei seiner Arbeit auf der Werft fragten, wie er denn bei Wind und Wetter aufs Rad stei- gen könne, zuckte Schießer nur mit den Schultern: „Ich war froh, wenn ich nach einem langen Arbeitstag an der frischen Luft auf dem Rad saß. Es machte mir einfach Spaß und hielt mich fit. Das hat sicher auch was damit zu tun, dass ich mit dem Radfahren groß geworden bin und es nie als ,Strafe‘ empfunden habe“.
Anfang der 90er Jahre erinnerte sich der Fahrradliebhaber an die Räder aus der Vorkriegszeit zu- rück. Schnell war der Wunsch ge- weckt, eines der alten und schwe- ren Vorkriegsmodelle selbst noch einmal zu besitzen. Über eine An- zeige in der Zeitung fand Jürgen Schießer schließlich das Objekt der Begierde. Doch so glücklich er über seinen Fund war, so schnell entfachte es auch den Drang, nach weiteren Fahrrädern Ausschau zu halten. Bei seiner weiteren Suche kamen viele Räder neu hinzu, egal in welchem Zustand sie sich befan- den.
„Mein Schwager holte damals das zweite Rad, das ich gekauft hatte, beim Verkäufer für mich ab. Er brachte es mir vorbei und wollte es mir eigentlich gar nicht zeigen, in so einem schlechten Zustand war es“, erklärt der Fahrradsammler. Jürgen Schießer war jedoch hin und weg, als er das neue Stück be- sah. Es war in einem traurigen Zu- stand, weil es schon viele Jahr- zehnte nicht mehr gefahren wor- den war, aber es handelte sich um ein Original-Rad aus der Zeit des ersten Weltkrieges, nahezu voll- ständig erhalten und mit einem sehr hohen Rahmen. „Im Rück- blick kann ich auf jeden Fall sagen, dass dies eines der schönsten Räder war, die ich je erstanden habe“, schwärmt der 70-Jährige.
Und dem Fahradsammler kamen nicht nur „normale“ Räder in die Finger. Mit der Zeit interessierte er sich immer mehr auch für die Exo- ten unter den Zweirädern. Dazu gehörte beispielsweise das Hoch- rad, welches dem Fahrer bereits beim Auf- und Absteigen einiges an akrobatischem Geschick abver- langte. Auch Klappräder fanden Schießers Interesse. Besonders be- eindruckte ihn ein Modell, das mittels eines Lastenfallschirms aus dem Flugzeug abgesetzt wurde und dem Fallschirmjäger nach der Lan- dung zur Weiterfahrt diente. Die ersten Räder mit Federungen und großvolumigen Reifen, die das Fahren auf unebenem Gelände ver- bessern sollten, sind ebenfalls Teil von Schießers Sammlung, die aus insgesamt 45 Fahrrädern besteht. Die Restauration der alten Räder erfordert nicht nur handwerkliche Geschick, sondern unter Umstän- den auch viel Zeit, Geduld und Geld. Denn viele der jahrzehnteal- ten Räder waren beim Erwerb un- vollständig und defekt. Mit der Anschaffung eines neuen Stückes beginnt für Jürgen Schießer nach der Freude über den neuen Teil der Sammlung daher erstmal die Be- standsaufnahme: Welche Teile feh- len? Welche müssen ausgetauscht werden, weil sie keine Original- Teile sind? Und welche Teile müs- sen aufgearbeitet oder repariert werden? Die Schatzsuche nach den passenden Ersatzteilen beginnt. Auf Teilemärkten, bei anderen Fahrradsammlern und über Such- anzeigen fand er sie. Eine weitere Quelle war der Tausch von Fahr- radteilen mit anderen Fahrradlieb- habern. Nach der Säuberung und Beschaffung der fehlenden Teile beginnt der Wiederaufbau.
„Ich mache immer ein Foto im Fundzustand und eines, wenn das Rad wieder aufgebaut ist. Dieser Vergleich zeigt, wie groß die Mü- hen waren, es wieder in einen zeit- gemäßen Zustand zu bringen“, er- zählt der 70-Jährige.
„Und kurz darauf packt es mich dann wieder und ich halte schon nach dem nächsten Rad Ausschau“, gibt Schießer lachend zu.
Da kamen über die Jahre einige Modelle zusammen. Bevor die Fahrräder von Jürgen Schießer, die bis zu 135 Jahre alt sind, ihren Weg ins phanTechnikum in Wismar ge- funden haben, wurde die Samm- lung auf dem heimischen Dachbo- den der Schießers aufbewahrt. Um neu beschaffte Fahrräder vor seiner Frau zu verheimlichen, wurden diese sofort nach dem Erwerb auf dem Dachboden verstaut, während Frau Schießer noch auf der Arbeit weilte.
„Doch irgendwann kam die Wahr- heit dann doch ans Licht. Zu Weihnachten holte meine erwach- sene Tochter die Dekorationen vom Dachboden und sah natür- lich, dass da inzwischen ein paar mehr Räder als vorher standen. Und sie erzählte es prompt ihrer Mutter“, berichtet Schießer la- chend. Durch die Ausstellung ist auf dem Dachboden der Schießers nun wieder Platz – für neue alte Fahrräder.
Laura Piontek