Erinnerungen haben Macht – im Guten und im Schlechten. Das weiß Anja Pinnau und hat es sich mit ihrer Arbeit zum Ziel gemacht, Erinnerungsbrücken in zurückliegende Zeiten zu bauen – immer mit dem Ziel, die Gegenwart besser zu verstehen. Die 41-Jährige leitet seit einigen Wochen die Mahn- und Gedenkstätten in Wöbbelin. Zuvor hatte sie sich in einem öffentlichen Ausschreibungs- und Auswahlverfahren durchgesetzt.
Geboren und aufgewachsen in Parchim studierte Anja Pinnau in Rostock Deutsch und Geschichte. Als Studentin nahm sie an einer Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz teil, die sie nachhaltig beeindruckte. „Es war Februar und bitterkalt. Bis zum Horizont erstreckte sich das Lager, die Schornsteine guckten aus dem Schnee“, erinnert sie sich an diese erste Begegnung, die sie nicht mehr loslassen sollte. Der Blick auf die Dimension des Grauens, auf diese ausgeklügelte wie gnadenlose Vernichtungsmaschinerie, führte dazu, dass sie sich zunehmend mit der Aufarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus auseinandersetzte.
Sie bewarb sich zum Praktikum in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers in Ravensbrück, arbeitete dort zunächst als studentische Hilfskraft und später als freie pädagogische Mitarbeiterin. Hier lernte sie auch Ramona Ramsenthaler kennen, damals Leiterin der Wöbbeliner Gedenkstätten, die diesen Ort und dessen Bildungsziele sehr geprägt hatte. „Es war bei einem Besuch von Peter Havaš. Er war Häftling in Ravensbrück gewesen und 1945 auf den Transport nach Wöbbelin geschickt worden. Neun Jahre war er damals alt“, berichtet Anja Pinnau und erinnert sich, dass Ramona Ramsenthaler sagte: „Sie sind der kleine Peter, von dem ich immer erzähle!“
Nun öffnet Anja Pinnau selbst die Tür der Wöbbeliner Ausstellung. Ihre Anliegen aus der Ravensbrücker Zeit sind die gleichen geblieben: eine sachliche Aufarbeitung der Geschichte, verbunden mit Demokratiebildung. Die Rückkehr in die Gedenkstättenarbeit nach mehrjähriger Pause im anderen Job ist verbunden mit dem Gefühl, wieder am richtigen Platz angekommen zu sein.
Und mit vielen Plänen: „Ich möchte weitere digitale Angebote schaffen. Über Apps können wir zum Beispiel Interviews mit Überlebenden, Filme und anderes Material zur Verfügung stellen“, sagt die neue Leiterin. Sie sieht diese digitalen Vorschläge als Ergänzung – die Eindrücke vor Ort können sie ihrer Meinung nach nicht ersetzen. Denn Wöbbelin ist ein Platz, an dem sichtbar wird, wie sich große und regionale Geschichte verflechten.
Hier wurde 1813 der Dichter Theodor Körner beigesetzt, der während der napoleonischen Kriege bei Lützow tödlich verwundet und später unter anderem von den Nationalsozialisten als Heldenfigur instrumentalisiert worden war. Hier entstand im Februar 1945 ein Außenlager des KZ Neuengamme, in dem bis zur Befreiung am 2. Mai fast 1000 Menschen unter den extremen Bedingungen starben. Und so zeigt dieser Ort für Anja Pinnau, dass Geschichte nichts Abstraktes ist, sondern in die Familien und Leben der Menschen hineinwirkt und dass dies durchaus schmerzhaft sein kann.
Dennoch geht es ihr nicht um Schuld: „Ich habe gehört, wie die Zeitzeugin Batsheva Dagan einmal zu Jugendlichen sagte: „Ihr seid nicht schuld. Aber ihr tragt Verantwortung“, sagt die Pädagogin, für die genau dies zum roten Faden ihrer Arbeit geworden ist.
Unerträglich sind ihr deshalb die NS-Vergleiche, die im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie immer wieder auftauchen. „Das finde ich widerlich. Und deshalb ist es mir wichtig, Menschen ein Grundgerüst an Wissen zu geben, dass ihnen Dinge richtig einzuordnen hilft“, sagt Anja Pinnau. Viele Schüler könnten sich gar nicht vorstellen, dass Menschen verhaftet wurden, weil sie eine andere Religion, ein anderes Aussehen, eine andere sexuelle Ausrichtung hatten. „Das bringt junge Leute zum Nachdenken und zu der Erkenntnis, was heute alles anders ist: Ich kann sein, wie ich will, werden, was ich will, anziehen, was ich will“, sagt die Gedenkstättenleiterin. Sie weiß, dass jede Generation andere Fragen an die Geschichte stellt – und daher auch ihre eigene Arbeit immer im Fluss ist.
Auch darum möchte Anja Pinnau Menschen aller Altersgruppen in Wöbbelin begrüßen. Veranstaltungen wie Konzerte und Lesungen sollen auch künftig dazu beitragen. Außerdem führt ein Radweg an der Gedenkstätte vorbei – da sollte doch in puncto eines Angebots für Radtouristen einiges zu machen sein, meint die Chefin, selbst passionierte Radfahrerin.
Als solche begleitet sie in ihrer alten und neuen Heimatstadt Parchim – 2010 ist sie mit ihrem Mann und dem damals drei Monate alten Sohn hierher zurückgezogen – auch das Projekt „Stadtradeln“. Und inzwischen halten zwei Jungs – der jüngere gerade ein Jahr alt – die Mama ordentlich auf Trab. Katja Haescher