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Federzauber am Fenster

Birgit Gleichmann macht schreibend aus Schaufensterscheiben in Wismars Altstadt Kunstwerke

Birgit Gleichmann bringt Poesie in Wismars Innenstadt. Foto: Hieu Pham Trung

„Das Lächeln ist eine Kurve, die alles wieder gerade biegt“ steht auf einem der Schaufenster der Wismarer Möbelmanufaktur Goertz. Und es versteht sich fast von selbst, dass sich die letzten drei Wörter dabei ein bisschen krumm machen und dem Betrachter so ein Strahlen schenken.
Viele Wismarer lächeln angesichts solcher Zeilen in sich hinein. Sie wissen: Frau Federzauber ist mit ihrer Letterkiste hier gewesen und hat ihrer Spur durch die Stadt neue Buchstaben hinzugefüg Frau Federzauber – das ist Birgit Gleichmann, passionierte Sprüchesammlerin, Schreibkünstlerin und seit einem Jahr Wismarerin. „Wenn Menschen mir sagen, dass meine Fenster sie durch die Stadt begleitet haben, macht mich das froh“, erzählt sie. Inzwischen sind es mehr als 70 Schaufensterscheiben, die dank ihrer Wortkunst statt Durchsicht beste Aussichten bieten. Nicht alle Aufschriften sind erhalten – Birgit Gleichmanns Kunst ist vergänglich. Und manchmal braucht die Zeit auch neue Bilder, denn die Fensterkunst nimmt Bezug zu dem, was passiert und die Menschen bewegt – die vielen Friedenstauben, die Birgit Gleichmann in den zurückliegenden Wochen gezeichnet hat, beweisen es.
Die Aktion, die mit dem Hashtag #wismarpoesie die Wortwelten auch online sichtbar macht, nahm offline ihren Anfang: Nach dem zweiten Corona-Lockdown 2021 wollte das Team des Citymanagements die Botschaft „Wir sind wieder da“ auf der Straße unter die Leute bringen. Dass es Birgit Gleichmann versteht, mit dem Schreibwerkzeug wahre Wunderwerke zu vollbringen, wusste eine Wismarer Geschäftsfrau – so kamen beide Seiten zusammen. Das „Wiederaufschließen“ in den Geschäften hat dabei auch der Schreibkünstlerin die Stadt aufgeschlossen. „Als ich hierher kam, kannte ich außer der Maklerin niemanden“, sagt sie. Dazu der Lockdown, der Start war nicht leicht.
Dennoch war er bewusst gewählt: Nach dem Tod ihres Mannes 2017 reifte in Birgit Gleichmann der Wunsch, dem eigenen Leben eine neue Richtung zu geben. „Wir waren seit der neunten Klasse ein Paar“, beschreibt sie die tiefe Verbundenheit und die Einsamkeit, die mit dem Verlust einherging. „Weil wir beide das Meer geliebt haben, sind wir im Urlaub bis nach Genua oder Kühlungsborn gefahren“, erinnert sich die gebürtige Thüringerin. Nachdem ihr Mann in der Ostsee seine letzte Ruhe gefunden hatte, zog es Birgit Gleichmann immer wieder ans Meer. Und im Januar 2021 nahm der Umzugswagen schließlich Kurs auf Wismar.
Neben den Möbeln mit an Bord: das kleine Atelier „Federzauber“, das Birgit Gleichmann schon viele Jahre begleitet. Seit ihrer Kindheit liebt sie es zu schreiben. „Ich habe schon mit fünf angefangen, weil ich gern mit den älteren Nachbarsmädchen zusammen war, die vor dem Spielen ihre Hausaufgaben machen mussten. Für mich war das immer schon der Beginn des Spiels“, erinnert sie sich. Gern wollte das künstlerisch begabteMädchen Maskenbildnerin werden, lernte auf Druck der Eltern dann aber den Beruf der Wirtschaftskauffrau und hängte ein dreijähriges Studium der Finanzen an. Nebenbei schrieb Birgit Gleichmann Karten: Glückwünsche zu besonderen Festen, Einladungen,Ermutigungen. Ihrer Handschrift bleibt sie dabei immer treu: „Wenn jemand zu mir sagen würde: Mach mal diese oder jene nach, dann würde ich nein sagen.
In meiner Schrift fühle ich die Buchstaben und lege dieses Gefühl in den Schwung.“ Immer wieder, erzählt Birgit Gleichmann, würden Menschen stehen bleiben und ihr beim Arbeiten an den Fenstern zusehen, Fragen stellen, Komplimente machen.
Die Worte, die sie schreibt, nimmt sie teils aus ihrer Sammlung schöner Sprüche, teils haben die Auftraggeber eigene Wünsche und Vorstellungen. Und hatte mancher anfangs noch Angst, die Schrift könnte den Blick auf die Auslagen verstellen, so wissen jetzt alle, dass das Gegenteil der Fall ist: Die Fenster machen neugierig, ziehen
die Menschen an. Birgit Gleichmann schreibt keinen Spruch zweimal – warum auch, ihr Fundus ist riesig. Sie freut sich bei der Arbeit über Sonnenschein, denn Regen kann ein Wortwerk leicht ruinieren. Einmal schaffte das auch das Drehteam der SOKO Wismar, das eine erst einige Tage zuvor angebrachte Aufschrift abwischte, weil sie nicht zur Serienrolle des Geschäfts passte. Wenn Birgit Gleichmann nicht schreibt, genießt sie den Blick in
die Stadt aus den großen Fenstern ihrer Wohnung – gern mit Katze Luise an ihrer Seite. „Ich bin in Wismar angekommen“, fasst sie für sich zusammen. Und natürlich sind Buchstaben, die kunstvoll Worte formen, auch in ihren neuen vier Wänden zu finden – in diesem Fall Gedichtzeilen Mascha Kalékos, neben Rainer Maria Rilke Birgit Gleichmanns liebste „Schöne-Worte-Lieferantin“: „Jage die Ängste fort und die Angst vor den Ängsten. Für die paar Jahre wird wohl alles noch reichen. Das Brot im Kasten und der Anzug im Schrank.“

Katja Haescher

#wismarpoesie